Ein virtueller Vergnügungspark mit Cartoons, Comics, altem Spielzeug, Genrefilmen und Texten über pixelige Videospiele, und über Verrückte.

Jörg Buttgereits „Besessen“

Jörg Buttgereit, Berliner Arthouse-Genre-Legende, inszeniert mal wieder am Schauspielhaus Dortmund, einmal mehr ist das Stück exzellent, Karten gibt es unter theaterdo.de oder unter 0231/50-27222.

Buttgereit-Besessen

Autor und Regisseur Jörg Buttgereit sowie diverse Körperflüssigkeiten

Bei dieser Ultrakurzkritik könnte man es eigentlich belassen, denn die Buttgereit-Fanbase kommt sowieso zuverlässig. Bei der Uraufführung am vergangenen Samstag war alles im Publikum vertreten, was im Ruhrgebiet haust und eine Schwäche für angeschrägtes Entertainment hat, das Besonders-Wertlos-Festival genauso wie die Jungs von Buio Omega und DVDrome wie auch Zombie-09-Sprecher und Virus-Autor Lino Endorphino und viele weitere. Dass das wie ein kleines Familientreffen anmutete, könnte man als Außenstehender geflissentlich ignorieren, wenn nicht alle diese Gestalten seit ihrer Jugend Genrefilmfans wären, die die 80er und/oder 90er Jahre hindurch die Videotheken und Videobörsen nach den ultimativ ungeschnittenen Versionen sozial-ethisch desorientierender Horrorstreifen abgesucht haben. Denn um genau diese Geeks geht es – unter anderem – in Buttgereits neuem Werk. Nachdem er zuletzt mit Nosferatu lebt! dem deutschen Stummfilm gehuldigt hat, beschäftigt sich Besessen nun mit der persönlichen Vergangenheit von Autor und Publikum.

Gerd, genau wie Buttgereit sowohl Jahrgang 1963 als auch Filmfreak und Kiss-Fan, sitzt im Jahr 1986 in seiner Asi-Singlebude, als sein Kumpel Marian vor der Tür steht. Bei Pizza und Dosenbier versucht der manische Horrorgucker diesen zu überreden, sich zusammen William Friedkins Der Exorzist reinzuziehen. Der angehende Arzt Marian hat zwar noch nie in seinem Leben einen Horrorfilm gesehen, ist aber in einer christlichen Sekte groß geworden und hat dort mal einen tatsächlichen Exorzismus miterlebt. Ideale Voraussetzungen also für einen gelungenen Videoabend, aber kaum ist die Cassette eingelegt, taucht eine Frau auf, die vom Geist der Exorzist-Hauptdarstellerin Linda Blair besessen ist und den beiden Horrornerds in bester Genretradition die Bude vollpisst, -kotzt und –blutet. Was für eine Gelegenheit, das theoretische Wissen in die Tat umzusetzen und einen zünftigen Exorzismus zwischen Pizzakartons und VHS-Tapes durchzuführen!

Besessen ist Buttgereits Verbeugung vor dem Okkult-Horrorkino der 70er Jahre – aber auch vor der legendär propagandistischen ZDF-Doku Mama Papa Zombie (1984). Deren Macher, besessen vom Wahn, die Jugend vor etwas beschützen zu wollen, was sie selbst nicht verstanden, attestierten den damaligen Horrorfans ihrerseits Besessenheit. Und so ist Besessen nicht nur eine großartig amüsante Sitcom, nicht nur ein ziemlich derbes Stück Body-Horror, sondern auch eine Reflexion über Einfluss und Wesen der Medien. Natürlich ist jemand wie Gerd, der sich selbst im Angesicht des Übernatürlichen in erster Linie um seine Filmsammlung sorgt, in gewisser Weise besessen (wie die Mama-Papa-Zombie-Macher sicherlich eifrig bestätigen würden), natürlich ist jeder Filmfan (und davon gibt es im Publikum, wie gesagt, viele) im doppelten Wortsinn ein Medium – wir können unsere Lieblingsfilme in unseren Köpfen Wort für Wort, Bild für Bild abspulen, wodurch gleichzeitig deren Macher aus uns sprechen, als wären sie mesopotamische Dämonen.

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Verdreht jungen Mädchen den Kopf: Pazuzu, mesopotamischer Dämon (Quelle: Wikimedia Commons)

Solche Assoziationen funktionieren nicht zuletzt durch die liebevolle Detailarbeit, die in die Figuren geflossen ist, und die dafür sorgt, dass man das Gesehene bereitwillig auf sich selbst bezieht, weil man sich mit dem Fetthaarträger Gerd (Ekkehard Freye) identifiziert, seinen Enthusiasmus beim auswendigen Rezitieren eines Spiegel-Artikels von 1974 teilt und seine elektrisierte Reaktion mitfühlt, als er von Marians Exorzismus-Erfahrung berichtet bekommt. Wer sich für Genrefilme interessiert und mit Anfang zwanzig nicht selbst wie Gerd war, hatte zumindest einen Typen in seinem Bekanntenkreis, der exakt diesem Klischee entsprach; wenn der eigene Filmgeschmack ein wenig dubioser war, ist einem damals mit hoher Wahrscheinlichkeit auch so jemand wie Marian begegnet, jemand, der nicht in erster Linie Filmverrückter ist, sondern eigentlich nur verrückt, und dem Björn Gabriel eine linkische Körpersprache und einen Blick gibt, die die Figur zum mit Abstand Gruseligsten machen, was an diesem Abend auf der Bühne zu sehen ist. Der Dreh- und Angelpunkt einer Exorzismusgeschichte ist nichtsdestotrotz die Besessene. Dass Sarah Sandehs Linda hysterisch schreit und sich auf dem Bett herumwirft, war abzusehen, erfreulicherweise aber verwendet sie die gleiche Intensität auf die leisen Passagen und verschafft der Figur auf diese Weise eine Dynamik und Körperlichkeit, die eine Szene, in der sie über Fellatio im Jenseits spekuliert, erst richtig wirken lassen. Neben diesen Dreien ist außerdem noch der wunderbare Uwe Rohbeck auf der Bühne, den ich zuletzt in Häuptling Abendwind gesehen habe, aber ich will ja nicht alles spoilern.

Und deswegen hätte ich es letztendlich doch beim ersten Satz dieser Rezension belassen können: das Stück ist super, wie wirklich ausnahmslos alles, was ich mir in den letzten zwölf Monaten in Dortmund angesehen habe. Geht hin, möglichst bald, sonst stauen sich demnächst die Pflichttermine – die Proben für Wenzel Storchs Das Maschinengewehr Gottes haben in dieser Woche begonnen. Termine und Karten für Besessen gibt es hier oder unter der Telefonnummer 0231/50-27222.




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