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Häuptling Abendwind und die Kassierer

Häuptling Abendwind hat ein Problem: sein Kollege Häuptling Biberhahn von der Nachbarinsel hat seinen Besuch angekündigt, aber es ist grade kein Fremder in der Speisekammer, den man dem Gast servieren könnte – und das, wo das Verhältnis der beiden Stammesführer untereinander sowieso angespannt ist, haben sie doch vor nicht zu langer Zeit die Gattin des jeweils anderen entführt und verspeist. Zufälligerweise wird da ein junger Mann angespült, der die Lücke im Speiseplan füllen könnte – wovon Abendwinds 16jährige Tochter Atala allerdings wenig begeistert ist, da sie sich in den fremden Friseur verliebt und außerdem Veganerin ist.

Das Theater Dortmund hat sich in den letzten Jahren zunehmend profiliert als Bühne für grandios umgesetzte, publikumsaffine Stücke. Egal ob Körperhorrorlegende Jörg-Buttgereit japanische Riesenmonster inszeniert oder Wenzel Storch Klemmi-Katholiken vorführt, es ist jedesmal Theater für Leute wie mich, die mit Theater eigentlich nicht viel anfangen können. Oder es doch könnten, wenn Theater öfter so wäre, wie es sein sollte, nämlich so wie in Dortmund.

Häuptling Abendwind und Die Kassierer: Eine Punk-Operette

Die Kassierer und Julia Schubert: Ist das noch Punkrock? (Foto: Theater Dortmund)

Als man sich dort Johann Nestroys schwarze Komödie im Menschenfresser-Milieu vorgenommen hat, hätte man auch eine werkgetreue, zeitgenössische Umsetzung des Stücks von 1862 mit der originalen Musik nach Jacques Offenbach liefern können. Stattdessen hat man die Kassierer ins Boot geholt. Die mächtigste Punkband aus Bochum-Wattenscheid mit ihrem Frontmann Wölfi Wendland (seinerzeit Kanzlerkandidat für die Anarchistische Pogo-Partei Deutschlands) ist damit im dreißigsten Jahr ihres Bestehens im etablierten Kulturbetrieb angekommen. Allerdings fiele es andersherum auch nicht schwer, den verdienten Wiener Theatermacher Nestroy (1801 – 1862) in die Punk-Ecke zu stellen – der wurde mehrere Male eingeknastet oder aus der Stadt gejagt, weil er auf der Bühne vom staatlich genehmigten Textbuch abwich und drauf los improvisierte, um seine Kritiker zu beleidigen, und auch ansonsten hatte er offenbar keine Probleme damit, alles und jeden lächerlich zu machen.

Nestroy

Nestroy everything: Johann Nestroy (Punk?)

Entsprechend findet sich zur Premiere, die ausgerechnet am 80. Geburtstag des Dosenbiers stattfindet, auch nicht nur das übliche Theaterpublikum ein. Vereinzelt sieht man korrekt aufgestellte Iros und nietenbesetzte Smartphone-Etuis, und spätestens ab dem Moment, in dem die Kassierer auf die Bühne kommen, ist klar, dass das kein normaler Theaterabend wird, sondern eher so abläuft wie ein Kassierer-Konzert nun mal abläuft: Es gibt Zwischenrufe, sämtliche Songs werden enthemmt mitgegröhlt, und alle, die eine Sprechrolle haben, machen sich an irgendeiner Stelle im Stück untenrum nackt. Im hinteren Teil der Bühne steht die Band, das restliche Bühnenbild ist ausschließlich aus hunderten von leeren Bierkästen zusammengezimmert, ansonsten hängt von der Decke noch eine Leuchtreklame für eine „Bier-Galerie“ (das Theater liegt gegenüber des Dortmunder Einkaufszentrums Thier-Galerie). An der allerdings fallen sehr bald ein paar Buchstaben aus, sodass da nur noch „EGAL“ steht, was die Attitüde der Inszenierung gut zusammenfasst: Dass Wölfi schon beim Auftaktsong „Das Schlimmste ist, wenn das Bier alle ist“ den Text versemmelt: egal. Dass die beiden Häuptlinge sich mehrmal fast auf die Fresse legen, weil sie auf zig Kilo Spaghetti ausrutschen: egal. Gehört alles dazu.

Karte

„Ehrenkarte“, muhahaha!

Dem kulturellen Auftrag kommt man hinreichend nach, wenn Häuptlingstochter Atala kurz anreißt, dass der Kannibalismus hier als Parabel auf die Ausbeutung des weiblichen Fleisches durch das Patriarchat deutbar sei, aber diese und andere Ausflüge in eine die vierte Wand durchbrechende Metaebene weichen mit fortschreitender Laufzeit schwarzen Dialogen und einem fröhlichen Gemantsche mit Nahrungsmitteln und Fäkalien. Begleitet wird dieser viszerale Dadaismus von ungefähr anderthalb Dutzend thematisch jeweils passenden Klassikern aus dem Repertoire der Kassierer, plus dem neuen Song „Ich bin so gerne Menschenfresser“, der noch so frisch ist, dass Wölfi den Text vom Blatt abliest.

Die offensiv herausgestellten Unzulänglichkeiten täuschen nicht darüber hinweg, dass die Dramaturgie der kleinen und eigentlich nur auf ein paar gute Gags hin geschriebenen Geschichte besser durchdacht ist, als sie wahrscheinlich sein müsste, und dass die Schauspieler durchweg großartig sind und sehr präsentable Geschlechtsteile haben. Das Ergebnis sind neunzig unglaublich befreiende Minuten, von denen man noch lange zehren kann. Ich war noch nie zuvor nach einem Theaterbesuch heiser. Geht da hin, bringt eure Eltern mit.

PS: Wer in den ersten zwei, drei Reihen sitzt, bekommt für sein Eintrittsgeld außerdem eine vollwertige Mahlzeit (ins Gesicht) und sollte Kleidung tragen, die sich gut waschen lässt.

Termine und Karten (oder anrufen: 0231 – 50 27 222)

Fettich

Feierabend! Von links nach rechts: Maximilian Steffan, Ekkehard Freye, Julia Schulz, Nikolaj Sonnenscheiße, Volker Kampfgarten, Wölfi Wendland, Mitch Maestro, Uwe Schmieder, Uwe Rohbeck. (Foto: Ich)



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